Braune Bananen
Selten war so viel los in Karl-Marx-Stadt. Und noch seltener waren so viele Menschen auf dem Brühl zu sehen. Alle an einem Ort und alles nur, weil ein neuer Laden seine Tore geöffnet hat. Für die Menschen am Brühl ist das natürlich Grund genug, um die Rotkäppchenkorken knallen zu lassen. Denn geschlossen werden Läden in dieser Gegend viele. Seit der Wende hat sich auf der einstigen Prachtallee nichts getan. Aber neu eröffnet? Das hat Seltenheitswert!
So wurde die Neueröffnung heute regelrecht zelebriert. Mit Transparenten, Musik und zahlreichen Wortmeldungen wollte man sich diesen neuen Laden genau ansehen. In Funk und Fernsehen wurde gar zum gemeinsamen Gang dahin aufgerufen. Denn der Konsum bereitet doch die meiste Freude im Kollektiv. Große Enttäuschung machte sich allerdings breit, als man feststellen musste, dass der Laden am Freitagnachmittag bereits geschlossen hat. Die Rollläden waren unten, die Tür verriegelt. Kein einziger Blick drang in den neuen Konsumtempel ein. Kein einziger Geldschein wechselte den Besitzer. Kein einziger glücklicher Kunde verließ das Geschäft.
Unklar ist bisweilen allerdings auch, um welche Art Laden es sich handelt. Weder Schild noch Schaufenster lassen auf den Inhalt schließen. Der kurzzeitig angebrachte Schriftzug „Brevik“ über der Tür ist bereits wieder verschwunden. Auch der Name des Eigentümers – Thor Steinar – lässt keine Rückschlüsse zu. Was zieht einen Skandinavier schon nach Karl-Marx-Stadt. Vermutungen über das Angebot gibt es indes viele. Zunächst wurden in der näheren Umgebung viele Männer mit äußerst kurzen Haaren gesichtet. Es könnte sich also um einen Herrenfrisör handeln, der sich auf die besondere Form der Nassrasur spezialisiert hat. Auch ein Bekleidungsgeschäft könnte sich hinter der Fassade befinden. Man spricht von nordischen Motiven. Demzufolge also ein Laden für Fischgrätenmusterpullover?
Am wahrscheinlichsten erscheint allerdings die Ansiedelung eines Obst- und Gemüsewarenhändlers. Das erste Indiz ist die Menge der Leute: So viele Menschen kannte man bisweilen nur bei frisch eingetroffenen Bananenlieferungen! Die wartende Kundschaft draußen spricht derweil von einer besonderen Art Bananen – braune Bananen. Wenn dem so ist, wäre das ein absolutes Novum in Karl-Marx-Stadt. Der geneigte Bürger kann nunmehr auf die tagelange Lagerung von grünen Bananen in der eigenen Küche verzichten und sich die Braunen direkt im Geschäft kaufen. Mehr Platz und mehr Zeit verspricht dieses Konzept. Doch solange das tatsächliche Warenangebot verborgen bleibt, tappt die Stadt im Dunkeln. Und wie lang sich dieser neue Laden hält, bleibt ebenfalls abzuwarten. Vielleicht ist es auch nur ein kurzes Konsumstrohfeuer.
Falk Sieghard
Letzte Artikel von Falk Sieghard (Alle anzeigen)
- Chemnitz vor dem Kollaps? - 4. Juli 2014
- Vom Ende der Glasflasche - 13. Mai 2014
- Zu viel: Erster Chemnitzer kann wegen Burnout nicht mehr die Stadt sein - 8. April 2014